Migration damals und heute
Migration sei der «Normalfall», schreibt der Kulturwissenschaftler Walter Leimgruber. Tatsächlich gab es schon immer Wanderungen. Und seit je gibt es für Auswanderung attraktive Regionen und auf Einwanderung angewiesene Gebiete. Der «Normalfall» zeigt sich auch im bündnerischen Hochtal Avers. Ein Blick sowohl in die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart des Tals zeigt im Kleinen, was sich gegenwärtig im Grossen abspielt.
Dieselben Muster
Die Motive zur Auswanderung bleiben die gleichen. Häufig zwingt die Armut dazu, das Glück in reicheren Ländern zu suchen. Manchmal ist es der Abenteurergeist, der zum mutigen Aufbruch drängt. Ab und an können private Sorgen der Auslöser für eine Flucht nach vorn sein. Einige gehen fort, weil sie sich aus ihrer angestammten Kultur befreien wollen.
Die Form der Wanderung ist heute dieselbe wie anno dazumal. Häufig folgt sie dem Muster der so genannten Kettenwanderung, wonach die Auswandererinnen und Auswanderer einem Pionier in ein Land oder eine Region folgen. Meistens sind es Verwandte, Bekannte oder Nachbarinnen, die im Zielland die Voraussetzungen schaffen, damit andere nachkommen können.
Eine positive, damals wie heute bestehende Konsequenz der Auswanderung sind die Überweisungen an die Zuhausegebliebenen, sei es in Form von Geld oder Naturalien. Manchmal sparen sich die Ausgewanderten die Rücküberweisungen vom Mund ab, manchmal investieren sie in ihrer Heimat für ihre eigene Rückkehr. So oder so sind heutzutage viele Länder auf die sogenannten Rimessen angewiesen.
Das Avers – kein Sonderfall
Die Geschichte der Migration im Avers ist vergleichbar mit der Schweizer und Bündner Ein- und Auswanderungsgeschichte. Analog zur Schweiz wanderte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert rund ein Fünftel der Einwohner aus dem Avers aus: Bezogen auf die Schweiz suchten rund eine halbe Million Menschen ihr Glück anderswo, bezogen auf das Avers waren es rund fünfzig. Einige zogen in andere Regionen der Schweiz, andere, vorwiegend Männer, gingen nach Übersee.
Ende des 19. Jahrhunderts kam es in der Schweiz und im Kanton Graubünden zu einer Kehrtwende: Erstmals war die Einwanderung grösser als die Auswanderung. Im Avers hingegen nahm die Bevölkerung – wie in anderen entlegenen Tälern des Kanton – weiterhin ab. Gleichzeitig haben saisonale, temporäre und permanente Einwanderungen dem Trend entgegengewirkt. Ohne Einwandererinnen und Einwanderer wäre das Tal wahrscheinlich entvölkert.